Do or die

„Wir brauchen nicht so fort zu leben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.“

Christian Morgenstern

Break the routines

‚Do Or Die‘ – AMARANTHE, feat. Angela Gossow

Routinen beenden„Break the routines“: Das Motto auf dem Shirt des Jungen in der letzten Einstellung des Videos ist der Ausweg aus der im Video gezeichneten Dystopie. Oder: er wäre es gewesen?

Routinen beenden – uns also für Dinge, die wir als unabänderlich verortet haben, Alternativen vorstellen können, und zwar echte Alternativen, nicht kleine Verbesserungen hier und da.

Routinen beenden – aufhören, diese so lange immer weiter zu treiben, bis nichts mehr geblieben ist – außer unseren Routinen – und wir Maden essen und mit dem Teufel tanzen.

Routinen beenden – wie geht das?

Hinter der Frage, wie wir Routinen beenden, steht noch eine andere, entscheidende Frage: Nämlich wie man dem Neuen, das diese alten, tödlichen Prozesse aufbricht und wieder Perspektiven eröffnet, zum Durchbruch verhilft. Wie sieht es mit unserer Bereitschaft aus, in die Unsicherheit zu gehen, wie sieht unsere Vorstellung und die Erzählung von dem Neuen aus, das die tödlichen Routinen ersetzten soll. Kurz: Wie bringt man das Neue in die Welt?

Angesichts der gigantischen Bedrohungen, denen wir uns inzwischen gegenübersehen – und die wir, nebenbei, alle selbst verursacht haben -erhält die Frage eine komplett neue Relevanz. Unsere Lebensweise- und vor allem unser Wirtschaftssystem, hat den Planten an den Rand des Kollaps geführt – und wir schaffen es nicht, diese Dynamik zu stoppen. Dabei bräuchten wir, gerade JETZT, „all Hands on Deck.“

Das Neue in die Welt zu bringen – das ist in einer Welt, in der das Alte in den Untergang führt, zu einer Frage des Überlebens geworden.

„Do or die“. 

Circle of Death

Was passiert, wenn nicht mehr funktionale Routinen nicht verlassen werden, zeigt der österreichische Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick an einem anschaulichen Beispiel:

Es gibt eine Ameisenart, die Wanderameise (Legionary oder Army Ant), die kein Nest baut, sondern dauerhaft in Bewegung ist und nach Nahrung sucht. Einige Arten orientieren sich dabei ausschließlich über den Geruchssinn: jede einzelne Ameise hinterlässt eine Duftspur, an der sich die folgende Ameise orientieren kann. So entstehen große, stabile Strukturen, die auch über längere Strecken den Weg zu ihrer Nahrung finden können. Gerät die Spitze der „Armee“ aber in die Nähe des Endes, folgt diese Spitze ebenfalls der Durftspur und schließt sich einfach an das Ende der Kette an. Es entsteht eine Kreisbewegung, eine Todesspirale, die Ameisen kommen aus diesem „Circle of death“ nicht mehr heraus, selbst wenn sie dabei über immer mehr tote Artgenossen klettern müssen – und laufen bis zu ihrem eigenen Tod.

Watzlawick zieht folgende Analogie:

„Auch wir Menschen haben die fatale Eigenschaft, an einmal gefundenen Lösungen stur festzuhalten, und zwar auch dann, wenn die Umweltbedingungen sich schon so weit geändert haben, das die Lösungen, die einmal möglicherweise die best möglichen, vielleicht die einzig möglichen waren, nicht mehr zutreffen. Und dass auf diese Weise eben die Lösung dann zum Problem wird.“

Paul Watzlawick – „Wenn die Lösung das Problem ist“, Vortrag 1987

Darum geht es: Den Ausstieg zu finden aus geschlossenen Systemen, die in die Erstarrung geraten sind, und nun tatsächlich das eigene Überleben bedrohen.

Sich das klar zu machen und die Todesroutinen unseres Business-as-usual als solche wahrzunehmen, ist der erste, aber bereits der entscheidende Schritt. Die Notwendigkeit des Ausstiegs zu erkennen als erste neue Grundhaltung.

Die zweite Grundhaltung besteht darin, zu erkennen, dass man auch in offenen, neuen Systemen und Situationen, die durch das Aufbrechen der alten Routinen jetzt entstehen, dennoch – und zwar ohne Rückgriff auf eben diese inzwischen tödlichen Muster – handlungsfähig bleiben kann. Auch wenn der Übergang in ein neues, erst einmal offenes System uns in eine ungeschützte Position bringt, Risiken beinhaltet und uns dementsprechend Angst macht.

Revolution für das Leben

Peter Tkac 2019 – Flickr

Für den Übergang in neue Systeme, oder etwas pathetischer ausgedrückt: in eine neue Welt (die ja schon längst da ist, auch wenn Viele noch mit den in die alte Welt gehörenden Verhaltensmuster unterwegs sind) brauchen wir neue Fähigkeiten, neue Muster – ein neues Denken. Wir brauchen ein klares und mit der Situation stimmiges Wertesystem zur Standort- und Kursbestimmung. Und wir brauchen die Fähigkeit, flexibel zu navigieren und Ziele dem sich permanent änderten Umfeld anzupassen.

Das ist tatsächlich nicht weniger als ein kompletter „Mindshift“, eine Revolution in unserem festgefahrenen Denken.

Aber: das können wir lernen. Kleine Schritte machen – geduldig, beständig, entschlossen. Denn, wie gesagt, der entscheidende Moment ist der, die Tödlichkeit der alten Routinen zu erkennen und den Mut zu finden, aus dem „Circle of Death“ (vielleicht sollten wir einfach Status Quo sagen?!) auszusteigen.

»Wir brauchen keinen großen Knall, um vom Hier in ein anderes Jetzt zu kommen.

Denn so wie es ist, ist es nicht durchweg. Wir können selbst Ansatzpunkte suchen und schaffen, um von vielen Seiten und Orten zugleich ein anderes als das destruktive Weltverhältnis einzugehen. Wir können Leben retten statt zerstören, Arbeit regenerieren statt erschöpfen, Güter teilen statt verwerten und Eigentum pflegen statt beherrschen.

Überall, wo wir damit beginnen und weitermachen, wächst die Revolution für das Leben.

Eva von Redecker – Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt 2020

Es ist eine Revolution, die „in den „Zwischenräumen bereits angebrochen“ ist.“ (Eva von Redecker – von ihr auch, stark verkürzt, die folgende Auflistung) – als Vorwegnahme einer anderen Ordnung, eines neuen Systems.

Einige Beispiele:

Routinen beenden – Fridays for Future und Extinction Rebellion zeigen, dass sich die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt aufbrechen lässt,

Routinen beenden – Ende Gelände beharrt darauf, dass es eine gesellschaftliche Frage sein muss, wie wir mit Ressourcen umgehen,

Routinen aufbrechen – indigene Gruppen berufen sich auf Fürsorgepflichten gegenüber dem Land und unseren Lebensgrundlagen.

Und so weiter. (Die drei wichtigsten Worte in diesem Artikel).


Um nun wieder den Bogen zum Anfang zu schlagen: Wie also kommt das Neue in die Welt?

Von dem Maler Gerhard Richter stammt die Aussage, dass er am Anfang eines neuen Werkes noch keine Ahnung davon hat, was am Ende entstehen wird, weil er schließlich zu etwas Neuem kommen will, etwas, das aus den „alten“ Zusammenhängen zu Beginn dieses Prozesses  noch gar nicht zu bestimmen und mitzudenken sei, wenn es tatsächlich den Anspruch des „Neuen“ haben sollte.

Entlang der Fähigkeit, mit einer solchen Haltung in die offenen und unsicheren Situationen unserer Gegenwart hineinzugehen, darin handlungsfähig zu bleiben und so neue Modelle zu entwickeln, wird in den nächsten Jahren die Grenze zwischen den „Ewig-Gestrigen“ und den Gestaltern von morgen verlaufen.

Sorgt doch, dass ihr die Welt verlassend
Nicht nur gut wart, sondern verlasst
eine gute Welt!

Berthold Brecht; aus: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“