Until we have faces

Zufälle sind die Menschen, Stimmen, Stücke,
Alltage, Ängste, viele kleine Glücke,
verkleidet schon als Kinder, eingemummt,
als Masken mündig, als Gesicht – verstummt.

Ich denke oft: Schatzhäuser müssen sein,
wo alle diese vielen Leben liegen
wie Panzer oder Sänften oder Wiegen,
in welche nie ein Wirklicher gestiegen,
und wie Gewänder, welche ganz allein
nicht stehen können und sich sinkend schmiegen
an starke Wände aus gewölbtem Stein.

Und wenn ich abends immer weiterginge
aus meinem Garten, drin ich müde bin, –
ich weiß: dann führen alle Wege hin
zum Arsenal der ungelebten Dinge.

Aus: Rainer Maria Rilke – „Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen“

Das Arsenal der ungelebten Dinge

Hannes Schwandt (Universität Zürich und Northwestern University, Illinois) hat vor einigen Jahren eine interessante Studie veröffentlicht: 

Er weißt nach, dass das Bedauern, nicht das Leben gelebt und nicht das erreicht zu haben, was möglich gewesen wäre, falsche Prioritäten gesetzt zu haben, vielleicht sogar real gescheitert zu sein, mit 50 Jahren seinen Höhepunkt erreicht. Dann setzt so etwas wie die Erkenntnis ein, dass von einem gar nicht so viel erwartet wird, wie man bisher glaubte – und entsprechend steigt die Lebenszufriedenheit ab diesem Alter wieder an. Man erzählt sich eine andere Geschichte über sein Leben, eine entspanntere, gelassenere, aber auch eine kleinere, die sich mit weniger zufrieden gibt, 

Eine Pandemie später, mitten in einem Krieg in Europa und mitten in der Klimakrise, in Hitzesommern und Katastrophennachrichten ist das mit den guten Geschichten nicht mehr so einfach. 

Und jetzt sind wir gezwungen, uns doch irgendwie zu verorten. Neu zu verorten. In unserem eigenen Leben, in der Welt. Aber passen die Deutungen, die „Geschichten“, wirklich noch?

Die Geschichten, die wir uns erzählen …

„Dafür bin ich zu alt ..“

„Ich kann das nicht, das schaffe ich nicht mehr …“

„Ich habe meinen Teil getan, jetzt sind andere dran …“

In meinem Umfeld beobachte ich seit einiger Zeit etwas Seltsames. Da ist zum einen eine ernste Nachdenklichkeit über den Zustand unserer Welt – sie bewegt sich in Abstufungen zwischen diffusem Unbehagen und einer Grunderschütterung. 

Zum anderen höre ich auf einmal von so vielen Menschen alle Arten von Geschichten (oder sehe deren praktische Auswirkungen in ihrem Leben), wie man sich selber in dieser Welt sieht und zu den sich nicht länger zu verdrängenden Krisensituationen verhält. Alte Überzeugungen geraten ins Wanken, und neue scheinen noch nicht erschließbar. Irgendwo dazwischen stehen wir, versuchen uns zu verorten – und erzählen uns unsere Deutungen und Geschichten:

Klimakrise: 

„Schlimm, schlimm. Aber es passiert ja etwas, es gibt doch zum Beispiel die Klimakonferenzen. Sag das auch mal deinem Sohn, der darüber so verzweifelt ist.“

„Ich kann das nicht aushalten. Ich will da nicht hinschauen, das ist zu viel. Für die Welt habe ich eigentlich keine Hoffnung mehr“

„Wir waren gerade auf einem Kongress, da ist so viel Aufbruch. Da soll jetzt eine Genossenschaft gegründet werden, und es gibt ja auch die Tiny House Bewegung gegen den ganzen Konsum.“

Alles echte – wenn auch von mir zugespitzte – Erzählungen aus Begegnungen der letzten Wochen. Geschichten, die wir uns erzählen um die Welt zu deuten und mit ihr leben zu können.

Und die doch alle irgendwie nicht passen. Für die wir uns verbiegen müssen, die nur dadurch stimmig werden, dass wir sie durch unsere angelegten Masken betrachten.

Until we have faces

„Faceless“

I’m not, I’m not myself
Feel like I’m someone else
Fallen and faceless
So hollow, hollow inside
A part of me is dead
Need you to live again
Can you replace this
I’m hollow, hollow and faceless

We are the faceless
We are the nameless
We are the hopeless

Until we have faces

RED – „Faceless“

Ich bin immer wieder erstaunt, und wenn ich ehrlich bin auch erschüttert, in wie viel Erstarrung die Menschen in meine Alter laufen, wie sich über Jahre und Jahrzehnte eingeschliffene Prozesse und Muster scheinbar nicht mehr aufbrechen lassen – und einfach das immer gleiche Leben wiederholt, und, weil ja auch einiges aus dem Leben wieder verschwindet, wie die direkte Verantwortung für die Kinder, berufliche Herausforderungen, die man inzwischen locker meistern kann, in mangelnder Vorstellung von Alternativen einfach intensiviert wird. Also einfach mehr von dem, was schon Immer war. Ich finde das todtraurig.

Jetzt ist wieder Weihnachten. Auch eine Geschichte. Aber eine, in der so vieles anders ist als in unseren eigenen verkürzten Geschichten. Eine Geschichte, die im Kern für echte und umfassende Veränderung steht. Das unschuldige Kind – seine Geburt wird mit der Prophezeiung verbunden, dass es „die Mächtigen vom Thron stürzt“, der Wanderprediger später – der den Herrschenden zu unbequem wird und von ihnen umgebracht wird, der scheinbar Gescheiterte – der, in der christlichen Deutung, die letzte Grenze des Todes überwindet. Die Geburt am Rande der antiken Welt – die tatsächlich die „Zeitenwende“ markiert und von der aus wir unsere Jahre zählen.

Bilder und Geschichten – wir dürfen unsere eigenen immer wieder kritisch hinterfragen und sie weit stellen. Die Perspektive, die angelegte Achse, von vorne her bestimmen. Und so in eine Form von Hoffnung hinein leben.

Nicht müde werden
Sondern
Dem Wunder
Leise
Wie einem Vogel
Die Hand hinhalten

(Hilde Domin)