Aufbrüche, Wege, Ziele. Und ein altes Lied

Diesen Text schreibe ich in Paris, wenige Tage vor Weihnachten.

Es ist ein früher, ruhiger Morgen auf Montmartre. Mein Blick geht hinaus auf den winterlichen Place du Tertre. Seit fast zwei Tagen fällt ein beständiger, leichter Nieselregen. Das unwirtliche, nasskalte Wetter hat den Platz auf der „butte Montmartre“ — sonst ein völlig überlaufener Touristen-Spot — fast komplett geleert. Eine einzigartige, ruhige, zurückgenommene, verträumt-melancholische Atmosphäre liegt über dem Viertel – es ist wunderschön.

Bei meinen Unterlagen war noch Platz für das Buch von Ian Bostridge: „Schuberts Winterreise — Lieder von Liebe und Schmerz“. Nun liegt es vor mir – es ist die ideale Lektüre für genau diese Szenerie.

Und es passt zu den Reflexionen, die wir zum Jahresende gerne vornehmen:

Wo stehen wir, wo wollen wir hin und welche Chancen gilt es jetzt zu nutzen?

Eine Winterreise. Also los.

Die fremde Welt

„Die Winterreise“ ist der Titel einer Sammlung von 24 Stücken für Gesang und Klavier. Komponiert hat sie Franz Schubert vor fast 200 Jahren, 1827, ein Jahr vor seinem frühen Tod. Schubert beschreibt dort verschiedene Stationen eines Menschen, eines „Wanderers“, der seinen Weg sucht in einer befremdlichen und unklaren Welt.

“Gute Nacht” — so heißt das erste Stück des Zyklus. Das ist ungewöhnlich, denn eigentlich schließt dieser Wunsch doch etwas ab: den erlebten Tag, oder vielleicht auch nur eine Zu-Bett-Geh-Geschichte, die man seinen Kindern vorliest. Hier steht das gleich am Anfang.

GUTE NACHT

Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh’ ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh’, –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee

Der „Wanderer“ steht zunächst stellvertretend für den Menschen der damaligen Zeit: verloren und orientierungslos im nach-napoleonischen Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts — in den Wirren und politischen Verwerfungen, aber auch den vielfältigen Aufbrüchen der Zeit. Aber: die eigene Welt so „trüb“, der Weg “gehüllt in Schnee“ , kaum noch erkennbar— das taugt auch gut als Bild für unsere heutige Welt. Unübersichtlich, voller Möglichkeiten, aber eben auch voller Bedrohungen. Angekommen in der Post-Moderne des 21. Jahrhunderts erleben wir doch gerade, wie schnell und umfassend sich diese Welt verändert und fremd werden kann. Wie alte Orientierungen, Normen, Selbstverständlichkeiten auf einmal nicht mehr tragen. „Mai“ und „Blumenstrauß” als Bilder für Wachsen und Erblühen geraten da schnell zu bloßer Erinnerung an vergangene Zeiten.

Handeln unter Unsicherheiten

Die Soziologen haben das längst erforscht. Sie sprechen von einer „neuen Unübersichtlichkeit“: Ständig mit Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten konfrontiert, können wir kaum gesicherte Pläne für die Zukunft machen. Sowohl im persönlich-privaten Kontext als auch im geschäftlichen und unternehmerischen Umfeld. Und dennoch müssen wir mit der Komplexität und Ungewissheit unserer Welt umgehen und in ihr kreativ neue Wege finden — ”muss selbst den Weg mir weisen in dieser Dunkelheit.”

Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit,
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such’ ich des Wildes Tritt.

Diese Orientierungslosigkeit macht Angst und treibt die Verunsicherten in Scharen in die Arme derer, die einfache Lösungen von gestern anbieten. Die passen zwar längst nicht mehr, gaukeln aber Sicherheit und Vertrautheit vor. In der Politik ist das rund um den Globus zu beobachten und in den Unternehmen leider immer noch quer durch alle Branchen. Wenn alles unklar ist, dann einfach mal „Weiter so“ — wird schon gut gehen. Doch so ist die Gegenwart nicht zu bewältigen und schon gar nicht sind damit die Herausforderungen von morgen zu lösen.

In einer Welt im Umbruch lassen sich aber nicht wie früher allgemeingültige Regeln definieren, die man dann einfach anwenden könnte. Frei nach dem Motto: “das war schon immer so”, “das haben wir schon immer so gemacht”. In den offenen Situationen, die wir in unserer Arbeitswelt, aber auch in unserer persönlichen Lebenswirklichkeit erleben, kommen wir schlicht und einfach mit dem alten zweckrationalen Schema — das Ziel ist vorgegeben und nun muss der beste Weg zum Erreichen dieses Zieles entwickelt werden — nicht mehr weiter. Vielen ist das immer noch nicht klar. Und das ist angesichts der enormen Gestaltungsaufgaben, die wir in Wirtschaft und Politik vor uns haben, ein echtes Problem.

Image by Alain Audet from Pixabay

Neue Wege erschließen

Heute besteht eine Kernkompetenz für gutes „Leadership“, und wohl für gelingendes Leben überhaupt, vor allem darin, mit diesen Unwägbarkeiten umzugehen und und trotzdem handlungsfähig zu bleiben. Wer in komplexen und hochdynamischen Zusammenhängen Entscheidungen trifft, weiß, wie sich das anfühlt. Ohne ein klar definiertes Ziel und bei unklaren Umgebungsvariablen dennoch neue und zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln – das erfordert Mut. Aber überall dort, wo vorgeprägte Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten sich auflösen — und das ist heute in fast allen Bereichen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft der Fall — kommt man mit den alten Mustern, Lösungswegen und Methoden nicht mehr weiter, auch wenn das immer noch viele glauben.

Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb hinaus ?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus;
Die Liebe liebt das Wandern –
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern.
Fein Liebchen, gute Nacht !

Was wir brauchen, ist ein bewusster Aufbruch, ein „change of mind“, das Überwinden von Gewohntem und Vertrautem. So wie der „Wanderer“ im Lied sich erst von Altem lösen muss, um sich eine neue Welt zu erschließen. “Was soll ich länger weilen..?” Nein, Schluss damit: “Gute Nacht”, ich bin weg.

Dieser Aufbruch ist der Beginn für alles Weitere, und so erst eröffnet sich Zukunft. Die Musik muss nicht gleich wieder verstummen, sondern jetzt geht es erst richtig los.

Der Wanderer in Schuberts Lied muss aufbrechen, um sich neue Möglichkeiten zu erschließen.

Wir sollten es ihm nachtun.

„Progress is impossible without change; and those who cannot change their minds cannot change anything.“ 

(George Bernard Shaw)