Radikale Innovationen – Linear vs. Exponentiell

Rund 700 Seiten ist er stark, der World Energy Outlook der Internationalen Energie Agentur (IEA). Vor rund 40 Jahren von 16 Industrienationen als autonome Einheit innerhalb der OECD gegründet, erarbeitet die IEA Szenarien für die Entwicklung der Energiewirtschaft, die sie in ihrem jährlich erscheinenden World Energy Outlook abbildet. Die „Zeit“ bezeichnetet diesen Report einmal als „Bibel der Energiewirtschaft“. Er ist Basis für politische und wirtschaftliche Entscheidungen, gilt als Leitfaden für Investitionsentscheidungen und und staatliche Energiepolitik.

In einigen Bereichen waren die Prognosen über die Jahre hinweg einigermaßen treffend, z.B. bei der Vorhersage des Energieverbrauchs. Aber hinsichtlich der Erneuerbaren Energien liegt die Agentur vor allem bei der Einschätzung der Photovoltaik in jedem einzelnen Jahr konsequent und spektakulär daneben.

Legt man das jährliche Szenario, das die IEA bezüglich des Zubaus von Photovoltaikanlagen vermutet und die tatsächliche Entwicklung („PV History“) einmal übereinander und vergleicht diese Werte über die letzten Jahre, ergibt sich ein fast schon skurriles Bild:

Jedes Jahr aufs Neue, seit die Photovoltaik 2002 Bestandteil des Reportes wurde, ging die IEA also davon aus, dass der Ausbau kaum noch zunehmen bzw. langfristig wieder schrumpfen werde. Und in jedem Jahr steht immer deutlicher diese Prognose in genauem Gegensatz zu der beobachteten und klar belegten Realität. Jedes Jahr das gleiche Szenario, nur eben von einem höheren Startpunkt aus gerechnet, denn der Markt war ja inzwischen rasant gewachsen. Die Prognose der IEA: geringes lineares Wachstum, eine flache Kurve, kaum noch Zuwachs. Jedes Jahr, fast formelhaft. Die tatsächliche Marktentwicklung: rasantes Wachstum, Ende nicht absehbar.

Das muss man sich einmal klar machen: Mindestens elf mal in Folge, spätestens also seit die Photovoltaik 2006 richtig Fahrt aufnahm, ist ein Gremium aus ausgewiesenen Experten nicht in der Lage, ein enormes Wachstum in seinem Fachbereich zu erkennen und in einem schlüssigen Zukunftsszenario abzubilden.

Disruptionen wahrnehmen

Wie passiert so etwas? Reicht der Hinweis auf die tiefe Verflochtenheit der Agentur mit alteingesessenen Energiesystemen aus, oder liegt jenseits ideologischer Verblendung dahinter nicht doch ein tieferes Problem, das es wert ist, zu reflektieren?

Auke Hoekstra von der TU Eindhoven, der mit einer Serie von Artikeln auf die spektakuläre Fehleinschätzung der IEA hingewiesen hat, vermutet neben der tiefen Verflechtung der Agentur mit der konventionellen Energiewirtschaft und falsch angesetzten Kostenmodellen, insbesondere hinsichtlich der Speichertechnologien, tiefer liegende Probleme.

Alteingesessene Industrien oder Organisationen, die “Platzhirsche”, zeigen sich fast nie in der Lage, radikale Innovationen, die sich entlang eines exponentiellen Trends entwickeln, vorherzusehen. Es fehlt schlicht die Vorstellungskraft. „This was true for steam engines, planes, computers, Internet, mobile phones, digital cameras, et cetera. Now we might see the same thing happening in energy (including storage) and transportation (electric vehicles using batteries that are plummeting in price).“

Und: Modelle, die über Jahre und Jahrzehnte immer weiter entwickelt und verfeinert wurden, werden dadurch so speziell und unflexibel, dass sie mit radikalen, exponentiell verlaufenden Veränderungen gar nicht umgehen können. „That is especially true for relatively static equilibrium models that are often used in economics. They cannot deal with radical exponential change.“ (Hoekstra)

Welche Auswirkungen die beschriebenen Schwierigkeiten im Umgang mit disruptiven Entwicklungen in dem oben beschriebenen Bereich der Photovoltaik hat, kann man zurzeit bei Siemens beobachten. Siemens beliefert die „alte“ Energiewelt mit Turbinen für Großkraftwerke und produziert diese an mehreren Standorten in Deutschland. Das Problem: Die Turbinen werden heute kaum noch gebraucht, allein im letzten Jahr ist der Markt um 60% eingebrochen. Photovoltaik ist entgegen den Prognosen der IEA die am stärksten wachsenden Energiequelle, der Preis dafür seit 2009 um 70% gefallen, wohingegen kaum noch jemand Geld in die Hand nimmt für konventionelle Groß-Anlagen, die über viele Jahre ihre Investitionen erst wieder einspielen müssen.

Ananas in Alsaka

Vor gerade einmal zwei Jahren — an dieser Stelle zur „Verortung“ ruhig noch mal auf die Kurve oben schauen — machte Siemens-Chef Kaeser noch Witzeüber die Photovoltaik-Förderung in Deutschland. Diese sei so sinnvoll, wie „der Anbau von Ananas in Alaska“. Wer je die Energiepolitik eines Landes bestimmen müsse, solle einfach das Gegenteil von dem machen, was in Deutschland gemacht werde. Ein offizielles „Weiter-so“ also, ein Bekenntnis zum Status Quo von höchster Stelle. Viel zu lange hat scheinbar auch Siemens, ganz entlang den Prognosen der IEA, eine seit vielen Jahren deutlich erkennbare Entwicklung nicht wahrgenommen und die Suche nach tragfähigen Lösungen für die neue Energiewelt aufgeschoben.

Jetzt ist es zu spät für einen geordneten Wandel. Was bleibt, sind Werkschließungen und Massenentlassungen. Ausbaden müssen das — zudem in einer politisch hoch problematischen Region — viele Tausend Menschen, die nun wohl arbeitslos werden.

Nur: witzig finden DIE das sicher nicht