Fuck the marshmallows

Über „Flow“ in Innovationsprozessen

Schon als Kind hat man uns eingeprägt: Ohne Fleiß kein Preis. Und auch als Erwachsene verlagern wir die Belohnung für unsere Arbeit, unser Glück und unsere Erfüllung in die Zukunft.

Fleißig und strebsam laufen wir in der einmal gesetzten Spur und hoffen, dass sich das später auszahlt. Das heißt aber: Letztlich bleibt alles beim Alten. Wie langweilig. Und wie tragisch.

Aber wir könnten doch auch in Bereiche aufbrechen, die unsere harte Arbeit wert sind und die uns schon jetzt erfüllen.

Wir könnten langweilige Pfade verlassen, neugierig bleiben, Wertvolles erschaffen, das Neue in die Welt bringen. Es könnte sogar zum Spannendsten in unserem Leben werden.

Wie gelingt uns das nur?

Die Belohnung verweigern

The children who were able to sit for three minutes with a marshmallow on the table in front of them without eating it were rewarded with two marshmallows when the experimenter returned.

But that’s crazy.

Krishna said we have the right to our labor, but not to the fruits of our labor. He meant that the piano is its own reward, as is the canvas, the barre, and the movieola.

Fuck the marshmallows.“

(Steven Pressfield — Turning Pro)

Als Jugendlicher verbrachte ich viele meiner Nachmittage am Klavier oder an der Kirchenorgel. Ich bin Musiker und habe das von kleinauf gelernt. Selbst im Winter fuhr ich mit dem Rad mehrere Kilometer durch die Kälte oder lief eine knappe Stunde durch den Schnee — den es damals noch gab — um mich dann frierend in der Kirche des Nachbarorts an die Orgel zu setzen, mit einem kleinen, mobilen Heizgerät neben mir, damit es wenigsten einigermaßen warm wurde.

Dann übte ich für ca. zwei Stunden, tauchte ein in eine Welt aus Tönen und Klängen. Das war erfüllend, herausfordernd, aber auch echte Arbeit. Und trotzdem saß ich am nächsten Tag wieder auf der kalten Bank und fror. Und am übernächsten. Ich übte, wurde stetig besser — und immer wieder erlebte ich das, was man nach dem Psychologen Mihály Csíkszentmihályi als „Flow“ bezeichnet, das „konzentrierte völlige Aufgehen in einer Tätigkeit“ (Wikipedia), das Eintauchen in etwas, das einen gänzlich einnimmt, herausfordert und glücklich macht.

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Später, an der Hochschule ließen wir uns nachts und an den Wochenenden oft im Gebäude einschließen. Wir mussten abends kurz vor 22 Uhr oder am Samstag Abend nur zur richtigen Zeit für einige Minuten Ruhe halten, um nicht aufzufallen — und dann waren wir in dem großen, leeren Gebäude allein, um ungestört an unseren Instrumenten üben zu können. Wir — das war meistens eine Gruppe von ein bis zwei Handvoll „Verrückter“, die lieber die Zeit hier verbrachte und arbeitete, anstatt wie alle anderen sich am Abend oder Wochenende abzulenken, Abstand zum Studium, zum Lernen, zum Alltag zu bekommen.

Für uns war das nicht attraktiv. Uns trieb nicht die Aussicht auf Belohnung für einen anstrengenden Tag, eine harte Woche, nicht das Verlangen, uns das zweite Marshmallow abzuholen, uns für Verzicht zu belohnen. Sondern: Das hier war unsere Welt, in die tauchten wir ein, hier gehörten wir hin und genau hier erlebten wir unseren „Flow“.

Wer noch nie professionell Musik gemacht und Kunst betrieben hat, hält das wohl für eine poetische Übertreibung, vielleicht auch für kompletten Unsinn.

Für den Künstler aber ist das erlebbare Realität. Wie für den Bergsteiger, den Marathonläufer, den Entrepreneur.

Eine Entscheidung treffen

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Was haben meine jugendlichen Übenachmittage und die Nächte in der Hochschule nun mit Disruptionen und mit radikalen Veränderungsprozessen zu tun? Viel!

Selbst hochgradig disruptive Entwicklungen fallen in unseren vertrauten Marshmallow-Systemen, die Angepasstheit und Disziplin belohnen, zunächst überhaupt nicht auf. Werden sie dann schließlich wahrgenommen, setzten Verdrängung und Fehleinschätzungen ein. Und zwar schlicht deshalb, weil wir es gewohnt sind, unsere Wahrnehmungskanäle und Bewertungssysteme konsequent anhand des Bekannten zu kalibrieren. Aus A folgt maximal B. Wenn überhaupt — meistens bleibt einfach A. Den Rest des Alphabets halten wir für Spinnerei.

Wer innerhalb solcher Strukturen einer neuen Mission folgt und dabei nicht nur einfach die Vorstellung von etwas Besserem hat, sondern auch seine ganze Energie in die Umsetzung steckt, der trägt eigentlich genau dieses Künstler-Gen in sich, von dem ich geschrieben habe: verwegen, von mir aus auch „verrückt“ genug zu sein, sich die Welt jenseits von „A“ oder „B“ vorzustellen und darin komplett aufzugehen. Sich einer Sache verschreiben, die für andere nicht zugänglich ist, die abseitig, unangemessen, verrückt erscheint. „Because the people who are crazy enough to think they can change the world, are the ones who do.“

Daher: Von uns ist eine grundsätzliche Entscheidung gefordert! Einfach brav im System bleiben (auch „nichts“ zu tun, ist eine Entscheidung) und weiter machen wie bisher, weil man uns einen zweiten Marshmallow versprochen hat — oder den epischen Fail, den wir „Status Quo“ nennen, infrage stellen und neue Möglichkeiten erforschen? Uns erzählen lassen, dass die Belohnung dort wartet, wo wir einfach die Gegenwart unreflektiert in die Zukunft verlängern — oder unsere Erfüllung in der Erforschung des Möglichen, des Unbekannten, des Herausfordernden, des Neuen finden?

Genau da verläuft die Grenze zwischen Fortschritt und Stillstand. Und Stillstand in einer sich radikal ändernden Welt ist immer Rückschritt. Wir kommen nicht ins „Morgen“, indem wir immer wieder daran gehen, die längst erledigten Herausforderungen des „Gestern“ zu lösen.

Das Neue in die Welt bringen

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Es gilt, in unseren starren Systemen konsequent den Schritt zur Seite zu gehen, die Spur zu verlassen, uns klar zumachen, dass es auf uns ankommt, dass echte und dringende Probleme zu lösen sind, dass Neues nur entsteht, wenn wir es ins Leben bringen und endlich aufhören, Altes immer wieder zu reproduzieren. Das kann man lernen, das kann man sich aneignen, dafür gibt es Vorbilder. Dann müssen die „crazy ones“, die „round pegs in the square holes“ auch nicht nur auf den Haufen Verrückte nachts in der Hochschule oder begeisterte Teams, die sich daran machen, ihre alten Märkte und Systeme kreativ zu zerstören, beschränkt bleiben — und sie sind es auch längst nicht mehr.

Aber nur so verschafft man dem Neuen den Weg in die Welt. Und nur so eröffnet man Zukunft in einem begrenzten und fragilen System, das ein „Weiter-so“ schlicht und einfach nicht mehr verkraften kann.

Wenn wir diesen mentalen Schalter umgelegt bekommen, dann lässt sich wirklich und entscheidend etwas verändern. Nicht weil wir auf einmal alle bessere Menschen geworden sind — nebenbei: wie cool wäre es, wenn wir das trotzdem würden — sondern weil es ökonomisch sinnvoll und ökologisch „Not-Wendig“ ist. Und weil ein stetig wachsender Haufen „Anders-Denkender“ genau darin Erfüllung findet, seinen Flow erlebt und nebenbei noch eine bessere Welt erschafft.

Das reicht — dafür muss man uns keine lächerliche Belohnung versprechen.

Fuck the marshmallows!

It may help to think of it this way: If you were meant to cure cancer or write a symphony or crack cold fusion and you don’t do it, you not only hurt yourself, even destroy yourself. You hurt your children. You hurt me. You hurt the planet.

You shame the angels who watch over you and you spite the Almighty, who created you and only you with your unique gifts, for the sole purpose of nudging the human race one millimeter farther along its path back to God.

Creative work is not a selfish act or a bid for attention on the part of the actor. It’s a gift to the world and every being in it.

Don’t cheat us of your contribution. Give us what you’ve got.

Steven Pressfield — The War Of Art