Raus aus der Kiste – Und zwar schnell.

Wie wir uns ein neues Denken erarbeiten.

Wir Menschen sind komisch. Haben wir einmal eine Lösung für ein Problem gefunden, halten wir stur daran fest. Wir denken zu starr, zu klein und zu sehr im Bekannten.

Dabei sollten wir genau das nicht tun: Denn die Welt um uns herum ist dabei, sich radikal zu verändern. Und zwar rasant.

Unsere Lösungen von gestern passen heute schon längst nicht mehr. Mehr noch: Angesichts gigantischer globaler Bedrohungen steuern wir mit unserer Beharrlichkeit direkt in die Katastrophe.

Andererseits: Was könnte alles möglich werden, wenn es uns gelingt, diese Haltung endlich aufzubrechen?

Nur wie können wir das erreichen?

Eine Antwort in drei Bildern.

Bild No.1: Die Schultafel

Image by Gerd Altmann from Pixabay

Die erste Zeit meines Berufslebens habe ich als Lehrer verbracht. Allerdings nur so lange, bis mir klar wurde, dass ich mich mit dem System „Schule“ nicht kompatibel machen wollte. Doch ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben, angesichts eines vollen Tafelbildes schon mal den Überblick zu verlieren und dann schlicht ein, zwei Schritte zurückzutreten, sich zu orientieren und so wieder das komplette Bild zu erfassen.

Wenn man heute Buzzwords wie „Big Picture“ und „Out of the box“verwendet, ist oft nicht mehr als einfach nur das gemeint: weg vom verbissenen Starren auf die eine Stelle, das eine Feld, das eine Problem, und stattdessen den Fokus weitstellen, Überblick schaffen, Zusammenhänge verstehen — und so wieder vorankommen.

Wer den Überblick verloren hat, wer Klarheit und neue Lösungen braucht, schickt also seine Leute ins Seminar, zum Innovationsworkshop und lässt sie neue Tools und Techniken lernen, oder man geht Klettern, Kühe-Streicheln und Bäume-Umarmen. Das Problem dabei: Den eigenen Rahmen, das über viele Jahre fest eingebrannte Denken, verlässt man dabei in der Regel gar nicht, man erweitert ihn lediglich ein wenig — ein paar Schritte zurück und das Bild ist wieder klar. Wie schön. Aber: die Box ist die gleiche geblieben, man hat sie jetzt nur etwas größer gemacht. Entsprechend bekommt man auch keine echten Veränderungen, sondern lediglich Verbesserungen. `Out of the box` ist aber mehr: Es erfordert eine grundlegend neue Haltung, ein umfassend neues mindset, eine andere Art die Welt zu sehen.

Aber wie kann das gehen? Wir müssen einen Schritt weiter gehen. Nächstes Bild.

Bild No. 2: eine Szene aus Salman Rushdies Roman „The Ground Beneath Her Feet“

Image by Jörg Peter from Pixabay 

In einem Kapitel beschreibt Rushdie, wie sich zwei Gelehrte, „Sir Darius“ und „Methwold“, in endlose philosophische Betrachtungen über die Komplexität und die Besonderheiten der Menschen vertiefen. Sie versuchen, alles zu erfassen, zu ergründen, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Und nun haben sie scheinbar wirklich die „Weltformel“ gefunden. Alles ist kategorisiert, alles klassifiziert, alles verstanden. Das System aus Natur und Menschheit ist entschlüsselt. Aber Sir Darius hat noch Zweifel:

„Ja“, sagte Sir Darius, „aber was ist mit allem, was sich außerhalb der Mauern, über dem Gewimmel, unterhalb des Wahrnehmungsfeldes befindet? Was ist mit den Ausgestoßenen, Aussätzigen, Parias, Exilierten, Feinden, Gespenstern, Paradoxien? Was ist mit denen, die anders sind? … Was ist mit den Menschen, die nicht dazugehören? Nirgendwo. Zu gar nichts, zu niemandem… Kometen, die durch den Weltraum reisen, frei von jeglichem Schwerkraftfeld.» …

«Wenn es derartige Menschen gibt», gab Methwold zurück, «sind die dann nicht äußerst selten? … Sind sie nicht, nun ja, so etwas wie Makulatur und all der andere Müll, den wir in den Abfalleimer werfen? Sind sie nicht schlicht und einfach überflüssig? Unerwünschte Trittbrettfahrer? Streichen wir sie nicht einfach von der Liste? Schneiden sie? Werfen sie aus dem Club?»

Aber Sir Darius hörte nicht zu. Er stand am großen Fenster seiner Bibliothek und blickte auf das Arabische Meer hinaus. «Die einzigen Menschen, die das gesamte Bild sehen», sagte er leise, «sind jene, die aus dem Rahmen treten.»

Salman Rushdie – „The Ground Beneath Her Feet“

„Die aus dem Rahmen Gefallenen“: Mit einem eigenen jahrelangen Background als Musiker kann ich sagen: Ja, es gibt sie, die „Misfits“, die Besonderen und Speziellen, die sich nicht einfangen lassen. Menschen, die anders denken, die einen geschärften Blick auf die Welt haben, eine besondere Art zu denken, eine spezielle Art, sich kreativ auszudrücken, Bestehendes zu verarbeiten, Neues anzustoßen.

Warum nutzen wir dieses Potenzial nicht? „Die einzigen Menschen, die das ganze Bild sehen, sind die, die aus dem Rahmen treten.“

Wenn wir also nicht wissen, wo es hin soll, warum denn nicht mal die fragen, die es schaffen, ein leeres Blatt Papier in eine Symphonie zu verwandeln oder eine weiße Leinwand in ein buntes Bild, wie die das machen. Wie man Neues schafft, wie man in den Flow kommt, wie man sich neue Perspektiven erarbeitet.

Daher: warum denn nicht die Kreativen an Bord holen, von mir aus auch gerne: ins Board. Nicht nur die Handwerker und Designer, schon gar nicht die üblichen Verdächtigen der „old economy“, sondern tatsächlich die Künstler. Die Maler, die Musiker, die Schriftsteller, die Bildhauer.

Aber das ist nur der Anfang, wir müssen uns auch selber ändern. Unsere Postion verlassen und selber aus dem Rahmen treten.

Daher: Bild drei.

Bild No. 3: Ein Türschloss aus „Mr. Robot“ (S2EP12)

Das dritte „Bild“ stammt aus einer der besten Serien der letzten Jahre: Sam Esmails „Mr. Robot“. Genauer: aus der vorletzten Episode der zweiten Staffel „eps2.9pyth0npt1.p7z“ (sie heißt tatsächlich so).

Angela, die Freundin des Protagonisten Elliot, einem Computergenie mit schweren psychischen Problemen, wird von Unbekannten entführt und in einem völlig surrealen Setting festgehalten. Für mehrere Stunden gefangen in einer „Box“, einem dunklen, kaum erleuchteten Raum. Schwarze Wände, die Tür verschlossen, vor ihr ein Tisch mit einem uralten Computer. In der Wand ist ein Aquarium eingelassen mit einem traurig drein schauenden Fisch, langsam tropft das Wasser heraus. Einige Stunden später dann — der Fisch liegt längst tot am Boden des leeren Aquariums — der Auftritt der schillernsten Figur der Serie: der mysteriösen Hackerin „Whiterose„.

Whiterose: “You’ve been here close to four hours and you never thought to walk out the door?“

Angela: „The door was locked!“

Whiterose: „I always found doors fascinating inventions. They hold an entry to unlimited imagination. Before you open any door, a world filled with possibilities sits right behind it. And it isn’t until you open it, they are realized. Such potential they bring to our minds — and yet, a lock stopped you from all of that?“

Warum dieses Bild? Weil es deutlich macht, dass ein Umdenken, das „Aus-dem-Rahmen-Treten“, nicht mal eben im Vorbeigehen zu erledigen ist. Vielmehr muss man sich dazu klar machen, (1.) wie sehr gefangen man in seinen eingespielten Denkmustern ist und (2.) dass diese nur durch einen bewussten Akt aufgebrochen werden können. Weil man (3.) sich sonst unfassbar spannende und vielfältige Möglichkeiten nicht erschließt und (4.) letztlich im und am Alten zugrunde gehen wird.

Wir finden mitten in Umbruchsituationen, wie wir sie gerade erleben, innerhalb unserer alten, übernommenen Systeme nicht die Lösungen, die wir brauchen, um uns eine echte Zukunft zu eröffnen. Das gilt überall: im persönlichen Leben, in gesellschaftlichen Prozessen und in unternehmerischen Entscheidungen.

Wenn sich alles ändert — und wenn wir erst einmal verstanden haben, dass sich alles ändert — dann müssen wir uns auch selber ändern — und zuerst muss sich unser Denken ändern. Ohne neues Denken, ohne einen echten „mindshift“ war’s das mit uns. Dann finden wir nur Lösungen für „gestern“, weil wir selber noch nicht auf „heute“ upgedatet sind. Dann liefert alles Out-Of-The-Box-Denken, all unsere Workshops, Kick-Off-Meetings und Gruppen-Events eben nur besseres Altes, aber nicht echtes Neues.

Wir müssen uns in die Lage versetzen — oder versetzen lassen — uns die „Welt hinter der Tür“ vorstellen zu können — und diese dann bauen. So einfach ist das, und das meine ich tatsächlich absolut ernst. Das ist echtes „Out-of-the-box“.

Nichts wie raus

Wenn wir als Unternehmen in einer Post-Corona Welt mit drohendem Öko-Kollaps und Klimakatastrophe überleben wollen, dann müssen wir schnellstens raus aus unseren alten Boxen, egal, wie weit wir die inzwischen gestellt haben.

Wie wir dieses über-lebensnotwendige Update hinbekommen, wie wir das lernen können und wo wir Vorbilder finden, zeigen uns diese drei aufeinander aufbauenden Bilder. Von den Kreativen und Misfits durch die unsicheren und offenen Prozesse hindurch helfen lassen und schnell und gründlich das eigene Mindset updaten – darum geht es.

Es gilt tatsächlich, in unseren Köpfen jetzt entschieden das Schloss zu knacken, das uns in unserem alten, aus der Zeit gefallenen Denken festhält. Sonst bleiben wir weiter in unserem dunklen Raum gefangen und sehen — nicht nur im übertragenen Sinne — dem Fisch beim Sterben zu.

Die Tür aufbrechen und raus — das ist unbequem und herausfordernd.

Aber anders ist der Weg in eine gute Zukunft nicht zu haben.