Wo bist du in deiner Welt?
Von dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878 -1965) stammt die folgende Erzählung:
Als Rabbi Schneur Salman in Petersburg gefangen saß, kam der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle. Er brachte bald manche Frage zur Heiligen Schrift vor. Zuletzt fragte er: »Wie ist es zu verstehen, daß Gott der Allwissende zu Adam (in der Paradies-Erzählung) spricht: „Mensch, wo bist du?“
Der Rabbi sprach: „In jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: ‚Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen: Wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?'“
Adam versteckt sich, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. So versteckt sich jeder Mensch, denn jeder Mensch ist Adam und in Adams Situation.
Indem sich der Mensch vor Gott zu verstecken sucht, versteckt er sich vor sich selber. In diese Situation hinein fällt die Frage Gottes. Sie will den Menschen aufrühren, sie will seinen Verstecksapparat zerschlagen, sie will ihm zeigen, wo er hineingeraten ist, sie will in ihm den großen Willen erwecken, heraus zu gelangen.
Martin Buber, Der Weg des Menschen (nach der chassidischen Lehre), Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus 42 (1948), Heft 7-8, S. 315-316 – gekürzt
Es gibt aber auch eine dämonische Frage, eine Scheinfrage. Sie ist daran zu erkennen, daß sie nicht bei dem »Wo bist du?« innehält, sondern fortfährt: »Von da heraus, wo du hineingeraten bist, führt kein Weg mehr.« Es gibt eine verkehrte Selbstbesinnung, die den Menschen nicht zur Umkehr bewegt und auf den Weg bringt, sondern ihm die Umkehr als hoffnungslos darstellt und ihn damit dorthin treibt, wo sie anscheinend vollends unmöglich geworden ist und der Mensch nur noch kraft des dämonischen Hochmuts der Verkehrtheit weiterzuleben vermag.
Martin Buber, Der Weg des Menschen (nach der chassidischen Lehre), Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus 42 (1948), Heft 7-8, S. 317